Ein visuelles Experiment im Mainfränkischen Museum Würzburg

Kulturpreisverleihung der Stadt Würzburg an Herbert Mehler im Mainfranken Theater am 10. Dezember 2007: Auf der Bühne steht – von Scheinwerfern in bläuliches, weich modellierendes Licht getaucht – die „Belladonna“ von Herbert Mehler und beschäftigt meine auf Werke von Tilman Riemenschneider spezialisierten Blicke den gesamten Abend: Die Präsenz der Plastik, die den ansonsten leeren Bühnenraum optisch ganz in Besitz nimmt, ist beeindruckend. Die vollrunde, allansichtige Skulptur entwickelt sich aus einer kleinen kreisrunden Standfläche, von der aus ihre gleichmäßigen vertikalen Rippungen langsam auseinander streben, sich in der oberen Hälfte des Körpers wieder zusammen ziehen, um sich dann erneut zu verbreitern. Die Silhouette, die durch dieses Öffnen, Schließen und erneutes Öffnen der Facetten entsteht, lässt den weiblichen Körper assoziieren. Die gleichmäßige Rippung taucht die Skulptur in ein weiches Licht- und Schattenspiel, das ihre Rundungen modellierend unterstützt und eine starke Plastizität erzeugt. Die Oberfläche des mit Eisennitrat beschleunigt patinierten Corten-Stahls wirkt homogen und samtig, hat stark haptische Qualitäten und lässt mit seinem changierenden, ocker- bis rotbraunem Farbton an Lindenholz denken.
 
 
Tilmann Riemenschneider meets Herbert Mehler
 
Belladonna von Herbert Mehler im Riemenschneider-Saal des Mainfränkischen Museums Würzburg umgeben
von dem spätgotischen Figurenzyklus für die Würzburger Marienkapelle; Foto: Caroline Maas, Würzburg
 
 
Spätestens bei der Assoziation an dieses Material wandern in Würzburg die Gedanken von dem Kulturpreisträger Herbert Mehler zum großen Meister Tilman Riemenschneider, dessen zwischen 1484 und 1531 in Würzburg aus Sandstein und Lindenholz geschaffenen Bildwerke für ihr „sanftes Sentiment“ bis heute berühmt sind. Tilman Riemenschneider kam 1483 als fertig ausgebildeter Bildhauer nach Würzburg und überzeugte hier schon bald durch eine für die fürstbischöfliche Stadt neuartige Gestaltungsweise, deren Qualität vor allem in einer technisch brillant beherrschten Handhabung des Materials Stein und Holz, in einer plastischen Präsenz der Bildwerke, einer die Körper modellierende Lichtführung und einer subtilen Oberflächenbehandlung augenfällig wird. Die Betonung des Körpervolumens, das durch die Strukturierung der Oberfläche provozierte Licht- und Schattenspiel auf den Figuren und die haptische Qualität der Oberflächenbearbeitung sind Formkriterien, die sich sowohl bei Tilman Riemenschneider als auch bei Herbert Mehler finden, so dass sich die Arbeiten beider Bildhauer – auch wenn der eine vor 500 Jahren menschliche Idealgestalten zur Veranschaulichung religiöser Inhalte aus Holz und Stein schuf, und der andere heute, im 21. Jahrhundert, abstrakte Archetypen aus Stahl fertigt – optisch harmonieren sollten.
 
 
Was lag also näher, als die „Belladonna“ nach ihrem Auftritt im Mainfranken Theater versuchsweise in den Riemenschneider-Saal des Mainfränkischen Museums Würzburg zu transferieren und dort Riemenschneiders berühmtester und eindringlichster Frauengestalt, der Eva vom Marktportal der Würzburger Marienkapelle gegenüberzustellen? Seit dem 11. Dezember 2007 ist nun dieses „visuelle Experiment“, zeitlich befristet bis 16. März 2008, im Mainfränkischen Museum zu sehen. Und augenfällig ergänzen sich die beiden Skulpturen: Die „Eva“ auf ihrer Konsole überragt die „Belladonna“. Als über Augenhöhe stehende Gewändefigur konzipiert wirkt sie erhaben über die „Belladonna“, die nur auf einer wenigen Millimeter dicken Sockelplatte steht und aus dem Boden zu wachsen scheint. Die konkav-konvexe, typisch weibliche Körpersilhouette, die bei der „Eva“ mit den schmalen Schultern und breiteren Hüften eher eine Flaschenform beschreibt, erscheint bei der „Belladonna“ umgedreht und auf den Kopf gestellt. Entrückt und bodenverbunden, von schmal zu breit und breit zu schmal in der Silhouette – die Figuren scheinen sich passgenau ineinander zu verzahnen, zusammen gefügt durch eine vergleichbare Oberflächengestaltung, die in ihrer Modellierung und Strukturierung die Skulpturen in ein weiches Licht- und Schattenspiel taucht, das sie der Wirklichkeit entrückt. Gleichzeitig wirkt der poröse Sandstein wie porendurchsetzte Haut, der korrodierte Stahl wie Samt, was beim Betrachter haptische Reize auslöst, die die beiden Gestalten auch wieder in unserer Wahrnehmungswelt verankern. Dieses Wechselspiel zwischen Ideal und Realität gibt den Figuren ihren geheimnisvollen und auch undurchsichtigen Charakter. Und wie Eva mit dem Pflücken des Apfels vom Baum der Erkenntnis den paradiesischen Zustand der Schöpfung beendete, so huldigt der Titel „Belladonna“ nicht nur der weiblichen Schönheit, sondern erinnert auch an die an die Schwarze Tollkirsche (Atropa belladonna), deren Beeren das Gift Hyoscyamin enthält, das krampflösend wirkt, in höheren Dosen aber tödlich ist. Das Wechselspiel in Form, Gestaltung und Gehalt ist das grundlegende künstlerische Thema beider Skulpturen und ihrer vergleichenden Gegenüberstellung.
 
von Claudia Lichte
 
 
   
© Herbert Mehler
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